Heute suche ich Leidensgenoss·innen. Warum das so ist und was das mit hervorragendem Essen zu tun hat, und weshalb die guten Manieren oft hinderlich sind, erkläre ich euch gleich. Ich muss dafür aber etwas ausholen. Der letzte Freitag begann um 4 Uhr 30 morgens, weil ich – mehr oder weniger aus Versehen – einem spontanen Rechercheausflug zugesagt hatte. Und dabei meinen überquellenden Terminkalender völlig ignoriert hatte. Also stand ich eben sehr früh auf, machte mir einen Kaffee, erledigte ein paar kleinere Aufgaben und saß dann um Punkt 7 Uhr 30 im Auto, um einen Kollegen abzuholen, der mich begleitete. Ich hatte geplant, vor unserem Termin noch irgendwo ein Weckerl und einen Kaffee abzustauben. Daraus wurde dann nix. Wieder mal aus Arroganz. Wir hatten uns nämlich geweigert, den Frühverkehr einzurechnen und waren auch so schon relativ spät dran. Der Termin war super, bis ich wieder daheim war, war es allerdings früher Nachmittag.
Daheim nutzte ich die Zeit, um noch ein paar To Dos von meiner meterlangen Liste zu erledigen. Zwischenzeitlich drängten sich Gedanken an Essen in den Vordergrund, aber das verschob ich immer wieder, bis es dann eigentlich schon Zeit war, zu meinem Dinner Termin aufzubrechen. Der war bei sehr lieben Menschen, die ich aber noch nicht lange kannte, ergo denen ich mich von der besten Seite zeigen wollte. Und dort erwartete mich dann das Paradies: hervorragende Tapas, eine Speise besser als die andere. Liebevoll zubereitet, teils nach Rezept von der Mutti der Gastgeberin. Fantasien von mir inmitten der Rotweinzwiebeln sitzend und Frittata in mich hineinschaufelnd begannen, mein Gehirn zu beherrschen. Aber man hat ja Manieren. Ich habe mich also zurückgehalten und vornehm von jedem Tellerchen ein winziges Bisschen auf meinen Teller gelegt. Schließlich wollte ich ja sorgfältig auswählen, wovon ich mehr wollte. Schnell stellte sich heraus: von allem.
Nun bin ich aber eine nervtötend langsame Esserin. Ich war noch nichtmal mit dem Probier-Set fertig, als sich die anderen Gäste – die einander alle seit langem kennen – schon die Hosenknöpfe öffneten, zurücklehnten und zufrieden erklärten, wie satt sie seien. Und dann kommt das Dilemma der Menschen, die im Schneckentempo essen: die anderen sind fertig, dein Teller ist immer noch voll. Haben die anderen mitbekommen, dass du erst bei Teller 1 bist, während sie schon Teller 2 verputzt haben? Oder denken die, du hast soviel aufgeladen, dass du immer noch nicht fertig bist? Sollte man dann einfach die halbe Portion nehmen, um mit den anderen sein Essen halbwegs gleichzeitig zu beenden? Die guten Manieren sausen lassen und einfach weiter zulangen?
Diese Fragen stellen sich natürlich im eigenen Familien- und Freundeskreis nicht. Was aber, wenn das Setting entweder ein formales ist und/oder man die anderen Beteiligten noch nicht lange kennt, aber unbedingt einen guten Eindruck hinterlassen will? Natürlich würdigt man sorgfältig zubereitetes Essen am besten, indem man es ungeniert verputzt. Wer das Problem nicht hat, kann es wahrscheinlich auch nicht nachvollziehen oder findet es sogar lächerlich. Aber ich persönlich esse wahnsinnig ungern unter Beobachtung oder wenn sonst niemand isst. Thanks, brain. Wie ich das Dilemma gelöst habe? Ich habe auf Flüssignahrung (Bier) umgestellt. Zu welcher Kategorie gehört ihr? Schnecke oder Terminator? Die guten Manieren oder rein, was geht?