So war der Megamarsch Wien – Erfahrungsbericht
Wien. Eigene Grenzen erreichen. Und dann noch einen Schritt darüber hinaus wagen. Das ist der Grundgedanke der Megamarsch-Erfinder. Denn diese 100 Kilometer in 24 Stunden-Wanderungen gibt es mittlerweile in mehreren Großstädten in Deutschland. In Wien fand am Wochenende vom 5. auf den 6. Oktober die erste Ösi-Ausgabe statt. Über 800 Teilnehmer waren angemeldet, rund 230 schafften es ins Ziel. Hier der Megamarsch Wien Erfahrungsbericht von einer, die es nur fast geschafft hat…
Vorbereitung ist das A und O
Das weiß ich jetzt. Also danach. “Besser spät als nie” ist in diesem Fall keine befriedigende Feststellung. Denn es gibt tatsächlich Dinge, die ich lieber schon vor dem Tag X gewusst hätte. Zum Beispiel, dass meine Stirnlampe nicht stark genug für absolute Finsternis mitten im Nirgendwo ist. Oder, dass es durchaus sinnvoll ist, sich die GPS Daten der Strecke vorher aufs Handy oder die Sportuhr zu laden. Dass man keine Wechselkleidung braucht, weil man eh keine Lust hat, sich umzuziehen. Die Liste der “jetzt weiß ich das zumindest”-Punkte ist lang geworden, hier habe ich (serviceorientiert wie immer) einen eigenen Beitrag über die Dinge verfasst, die dir vor dem Megamarsch niemand sagt. Ich hatte lange Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. 60 Kilometer und 12 Stunden lang. Denn dann war für mich Ende im Gelände. Also eher: auf der Laxenburger Straße. Aber von Anfang an.
Der Tag des Events war ein Samstag. Ein regnerischer Samstag. Meine geplante Begleitperson lag mit Schüttelfrost darnieder. Ich musste allein gehen. Weil Start erst um 16 Uhr war und ich ungenutzte Zeit hasse, hab’ ich den Vormittag nicht etwa dazu genutzt, meine Muskeln zu dehnen oder in aller Ruhe meinen Rucksack zu packen. Ich hab’ stattdessen die Wohnung geputzt, war einkaufen und hab um 13 Uhr dann mal überlegt, was ich anziehen und mitnehmen soll. Um 15 Uhr ließ ich mich mit dem Uber abholen und zum Startplatz bringen. Öffentlich hätte ich 16 Minuten zu Fuß gehen müssen. Und die 16 Minuten wollte ich klarerweise nicht schon vorab gehen.
Die Meute war guter Stimmung, das Wetter war verhangen. Alle Gehwilligen holten sich ihr Starterband und stellten sich dann brav an den Start. In 10-minütigem Abstand wurden die Gruppen dann losgeschickt. Einteilung gab es keine, es kam einfach auf den Zeitpunkt an, zu dem man sich an den Start stellte. Ich war in Gruppe 2. Der erste Teil der Strecke war der mit dem Leopoldsberg. Mein Angstgegner. Der hat mich vor Jahren schonmal in die Knie (auf eine Bank zum Verschnaufen) gezwungen.
Die ersten 20 Kilometer
Die Gruppe bewegte sich ziemlich strammen Schrittes die Donau entlang nach Klosterneuburg. Da war es auch noch trocken. Nach Kilometer 5 wechselte ich meine Wanderschuhe gegen meine Laufschuhe. Ein Gefühl, als würde man von Glassplittern auf Wolken umsteigen. Den Leopoldsberg keuchte ich im Sonnenschein hoch. Er war viel weniger schlimm als zu meinen untrainierten Zeiten. Und dass ich die Klappe gehalten und nicht durchgequatscht habe, hat auch geholfen. Viele der deutschen Mitstreiter haben die Länge und die Heftigkeit des Anstieges nicht erwartet und das auch ziemlich lautstark kundgetan. “Warum machen wir das??”, war mit Sicherheit der Satz, den man am öftesten hörte. Die Aussicht über Wien ist am Leopoldsberg fantastisch. Und rückblickend finde ich es schade, dass ich mich von der vorherrschenden Wettkampfmentalität (Warum eigentlich? Zu gewinnen gibt es nix!) so stressen lassen habe. Man muss einfach viel öfter stehen bleiben und die Landschaft genießen. So lange man das kann.
Denn schon auf der anderen Seite geht’s in den Wald. Es war mittlerweile nach 18 Uhr und wurde dunkel. Meine Stirnlampe beschloss, nur im Sparmodus (fast gar nicht) zu leuchten. Sie schaltete sich nach ein paar Minuten immer wieder ab. Es wurde immer dunkler. Ein stürmischer Wind zog auf (das lärmt ordentlich in so einem Wald!). Es begann zu regnen. Es sollte auch für die nächsten fünf Stunden nicht wieder aufhören. Regenschutz drüber gezogen, weiter marschiert. Im Geiste notiert: Besseren Regenschutz und wasserfestere Schuhe besorgen. Schweigend bin ich dahinmarschiert. Mal als Teil eines Grüppchens, mal allein. Ich hatte keine Lust auf Musikhören (aber klarerweise das ganze Equipment mit). Und auch keine Lust auf Nachdenken. Vielleicht besser so. Die erste Verpflegungsstation kam nach 20 Kilometern. Sie war keine Sekunde zu früh da. Stehen bleiben wär ungemütlich gewesen (Regen), drum hab ich mir im Vorbeigehen einen Müsliriegel und ein Stückchen Wurst geschnappt und bin weiter. Was sich als Glücksfall erwiesen hat.
Kilometer 21 bis 27. Ohne Roland geht’s nicht.
Gleich nach der Verpflegungsstation ging es hinauf auf irgendeinem Waldweg. Es muss in der Nähe der Marswiese gewesen sein. Der Anstieg war steil, es ging durch einen Wald. Der Weg: eine einzige Rutschpartie. Ohne Stöcke war es schwierig, voranzukommen. Und auch anstrengend. Es war ein Kampf. Dazu die depperte Lampe, der schwere Rucksack, der Regen. Gerade, als ich dachte: “So muss die Hölle aussehen”, verlor ich das Gleichgewicht und fiel rückwärts in den Schlamm. Geil. Über und über mit Dreck voll, nass und relativ demoralisiert fluchte ich vor mich hin. Dann war er plötzlich da. Roland. “Alles ok?”, fragte mich der >50-Jährige, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte, weil mich seine gleißende Stirnlampe blendete. “Jaja”, sagte ich. Fröhlicher, als mir zumute war. Sicher, weh tat mir nichts, denn so Gatsch ist halt weich. Aber leiwand war’s auch nicht.
Ich trabte in Rolands Flutlichtanlage (im Vergleich zu meiner Stirnlampe jedenfalls) weiter. Irgendwie passierte es, dass wir uns stillschweigend auf dasselbe Tempo einigten. Wir gingen einige Zeit lang schweigend durch den finsteren Wald. Trafen immer wieder auf Grüppchen, die nicht mehr weiter wussten, weil der Wind Wegpfeiler verweht hatte. Oder die Nacht sie vor uns versteckte. Roland kannte den Weg. Er hatte sich zum einen nämlich vorbereitet und war die erste Hälfte der Strecke schonmal gegangen (natürlich mit Rucksack, zum Materialtest). Und zum anderen hatte er sich die GPS Daten der Strecke aufs Handy geladen.
Ein make-or-brake Moment kam dann nach 27 Kilometer oben an den Steinhofgründen. Denn so nah war ich meiner Wohnung auf der ganzen Strecke nicht. Jetzt links abbiegen, den Berg runter und in die Dusche… Der Gedanke war verlockender als ein schokoladengetränkter Brad Pitt das jemals sein könnte. Zum Glück war es aber auch nur ein kurzer Moment. Denn da war Roland. Und obwohl wir uns erst einen Kilometer vorher vorgestellt hatten, war da plötzlich diese Hürde. Wäre ich alleine unterwegs gewesen, hätte ich mich nicht rechtfertigen müssen. Roland hätte ich sagen müssen: “Du, geh mal weiter… ich geh heim.” Das wollte ich nicht. Die moralische Unterstützung, die ein (auch unbekannter) Mitstreiter geben kann, ist unglaublich. Danke Roland, solltest du das je lesen.
Kilometer 27 bis 45. Baumgarten, Auhof, Lainzer Tiergarten
“Wie lang ist diese Scheißmauer eigentlich noch?”, fragte ich mit Blick in die Ferne. “Lang”, antwortet Roland, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Es war bereits um Mitternacht herum. Wir hatten Baumgarten und Hütteldorf hinter uns gelassen und marschierten nach Auhof an der Mauer des Lainzer Tiergartens entlang. Zum Glück war es dunkel, so konnte ich das Ausmaß von “lang” nichtmal im Ansatz erahnen. Die weißen Steine sollten uns nämlich noch Stunden begleiten. “Amoi wird’s no oarsch”, informierte mich Roland. Ok, das ist die Schattenseite der Vorbereitung. Blauäugig ist mir dann manchmal doch lieber. Und trotzdem hatte sich meine Laune merklich gebessert. Proportional zum Wetter eben. Außerdem hatten wir schon ein paar Meilensteine gefeiert, der Roland und ich. Nämlich 33,34 Kilometer – das erste Drittel unseres Weges, zum Beispiel. Oder, dass wir Mitternacht hinter uns gelassen hatten. Und dass wir bald die Marathondistanz erreicht haben würden. Und ganz insgeheim nur für mich feierte ich, dass ich immer noch dabei war. Denn mein größtes Muskelproblem war das Hirn, das relativ willensschwach beinand war.
Vor der nächsten Insgeheim-Party feierten wir noch einen tatsächlichen Meilenstein. Wir erreichten die Versorgungsstation 2. Bei Kilometer 40 verarztete ich eine sich schwach ankündigende Blase und wechselte die Socken. Ich war versucht, eine Freundin anzurufen und sie zu bitten, meinen schweren Rucksackinhalt abzuholen. Aber die konnte ich nicht anrufen, weil in der Gegend absolut kein Empfang war. Vor den Toren Wiens beginnt die Wildnis. Da blieb mir quasi nix übrig, als weiter zu marschieren. Es war tiefste Nacht, wir verirrten uns mehrmals und mussten auch immer wieder Rolands App zu Hilfe nehmen. Megamarsch Wien Erfahrungsbericht
45 bis 60 – Mehr geht nicht. Dieses Mal
Die letzten 15 Kilometer waren abwechslungsreich. Mal war da unendlicher Schmerz in den Fußballen. Mal war da nix. Mal huschten Gedanken durch mein Hirn, mal war da Leere. Mal hatten wir Gesprächsthemen, mal wieder nicht. Als wir die 55 Kilometer-Markierung erreichten, war ich schon fast sicher, dass es das war. Und als ich mich dann aufs Bänkchen bei der Versorgungsstation niederließ, war ich sicher. 60 Kilometer waren es dieses Mal. Nächstes Mal wird es die ganze Distanz. Ich war irgendwo an der Laxenburger Straße und wollte eigentlich nur noch heim. Ich war verschwitzt, verdreckt, müde und hatte Schmerzen. Ein Taxi hätte mich in diesem Zustand nicht mitgenommen. Die Freundin, die mich abholen wollte, hat ihr Handy nicht gehört. Drei Mal.
Ich schleppte mich also zur nächsten Bushaltestelle. Die war zum Glück um die Ecke und der nächste Nachtbus war auch schon im Anmarsch. Während andere also geschniegelt und gestriegelt am Weg in die Arbeit oder – schon ein bisschen zerstörter – am Heimweg vom Ausgehen waren, stolperte ich schmutzig und kaputt in den Nachtbus. Auch das ist eben Wien… vom Gewaltmarsch durch die Pampa direkt in die Öffis und bis heim vor die Haustür. Megamarsch Wien Erfahrungsbericht
Ich bin nächstes Jahr wieder dabei. Wenn ihr auch Lust habt, hier geht’s zur Anmeldung: www.megamarsch.de
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