Längst vorbei sind die Tage, als es soetwas wie “Economy Class” noch nicht gab und einfach jeder Flug eine angenehme Erfahrung war, ganz ohne Business Class zu heißen. Sicher, Ticketpreise waren teuer, dafür kam man nach einem mehrstündigen Flug, auf dem Leckerbissen von echtem Pozellan (natürlich von hübschen Frauen, die damals noch Stewardessen hießen) serviert wurden und man sich wie in einem Wohnzimmer fühlen und bewegen durfte, auch nicht vollkommen zerstört am Zielort an.
Viel hat sich seither geändert. Fliegen ist für alle leistbarer geworden. Wer einfach nur ankommen möchte, zahlt viel und fliegt Economy. Wer Kopfhörer, Gepäckmitnahme, Decken oder Hydration jenseits von Wasser wünscht, zahlt drauf. Wer echtes Essen, Service und saubere Toiletten will, fliegt Business oder First und zahlt am meisten. Der umlegbare Flugzeugsitz war – bislang – zumindest ein kleines Trostpflaster auf der Wunde “Langstrecke in der Eco”. Doch mit Flugzeugsitz Umlegen soll nun Schluss sein.
Ganz hinten in der Mitte
Es ist 4 Uhr 30 morgens, als das Boarding für den letzten Teil meines Langstreckenflugs beginnt. Aus Gründen, die wahrscheinlich einem Algorithmus geschuldet sind, war es mir drei Minuten nach Öffnen des Check-ins schon nicht mehr möglich, meinen Sitzplatz auszuwählen. Es wäre aber ohnehin egal gewesen, denn nach dem ersten Teil meiner Reise fühlt sich einfach jeder Platz in der Economy wie der Vorhof zur Hölle an. Ich ergebe mich also meinem Schicksal und steige mit dem Rest der Boarding Group C ein. Wir sind als erstes dran, sitzen also ganz hinten im Riesenjet – und dürfen das Erlebnis so natürlich auch besonders lang “genießen”.
Während ich mich auf 48E einrichte und hoffe, dass 48D und 48F einfach unauffällig und gewaschen sind, höre ich die Konversation hinter mir. 49D und 49E sind gemeinsam unterwegs. Sie sind Gen-Z, sehen aus wie Anfang 20. Sie bittet ihn, ein Foto von ihr zu machen – für TikTok und Snap, vielleicht will sie es später auch auf Instagram posten. Witzig, denke ich. Jetzt ist selbst Instagram nur noch ein Nebengedanke. Er muss, ganz dem Klischee entsprechend, noch ein kurzes Video von ihr machen, in dem sie ihr Reiseziel verrät und wo sie ihren Jogginganzug gekauft hat. Vielleicht gibt’s ja ein bisschen Provision vom Hersteller.
Ich habe in der Zwischenzeit mein Wasser (mitgebracht, weil Eco) in der Sitztasche vor mir verstaut, meine Kopfhörer (mitgebracht, weil Eco) mit dem Board-Entertainmentprogramm (das zumindest gibt es – man will die Fracht ja ruhig halten) verbunden und einen Film ausgesucht. Eigentlich möchte ich nur schlafen, der Tag ist schon verdammt lang. Natürlich warte ich, bis wir endlich abgehoben und unsere Flughöhe erreicht haben. Denn erst dann kann ich tun, was ich schon die ganze Zeit über tun will: Den Flugzeugsitz umlegen.
Mein persönlicher Freiraum
Als der Sitz langsam nach hinten klappt, fühlt sich das herrlich an. Es sind zwar nur ein paar Grad, aber zumindest ein bisschen angenehmer wird das Reisen durch diese bescheuerte Position dann doch. Fast, als könne man sich endlich an einer lang juckenden Stelle kratzen. Ich schließe die Augen und freue mich darauf, wegzudriften. Und an einem sonnigen Ort wieder aufzuwachen. Doch da habe ich die Rechnung nicht mit 49E gemacht.
Sie schlägt von hinten gegen mein Kopfteil. Zunächst ignoriere ich das – unangenehme – Gefühl. Ich schiebe es auf eine Turbulenz oder ein Versehen. Dann beginnt 49D mich am Arm anzustupsen. Widerwillig nehme ich Augenmaske und Kopfhörer ab und widme mich dem Anliegen des jungen Herrn. Der aber eigentlich gar kein Anliegen hat, sondern resigniert auf 49E zeigt. Die hat nämlich schon ein Anliegen. Oder eher ein Problem. Sie pfaucht mich an: “You are invading my privacy. Put your seat back.”
Ich lächle sie freundlich an. Vielleicht fliegt die Trulla ja zum ersten Mal. “No”, antworte ich. “It’s a function of the seat to make the flight more comfortable.” Und weil ich ja eine höfliche Person bin, erkläre ich ihr noch: “You can recline your seat as well.” Ermutigend nicke ich, setze mir aber gleich darauf wieder meine Augenmaske und die Kopfhörer auf. Doch damit ist der Friede in der letzten Reihe keineswegs wiederhergestellt. Es dauert nämlich nicht lange, bis 49E 49D dazu bringt, eine Flugbegleiterin zu holen. Die hört sich das Drama um den Sitz und den verletzten “private space” zwar an, erklärt 49E aber, dass jeder seinen Flugzeugsitz umlegen kann und darf und es sich dabei um ein “Designfeature for your Comfort” handle.
Flugzeugsitz umlegen: Ja, aber …
49E hat also Pech gehabt. Natürlich gibt es ein paar Regeln, die man beim Flugzeugsitz umlegen beachten sollte. Zum Beispiel finde auch ich es wahnsinnig unhöflich, wenn das Umlegen abrupt erfolgt. Also lieber langsam zurücklehnen, so dass man dem Menschen hinter einen nicht den Bildschirm ins Gesicht knallt. Beim Start und bei der Landung sind die Sitze aufrecht zu stellen – darauf wird man ja auch klar hingewiesen. Und ist man beim Essen wach, dann ist es höflich, seinen Sitz für den Menschen hinter einem aufzurichten.
Ist 49E zum ersten Mal unterwegs und weiß es einfach nicht besser? Oder ist sie einfach so von sich eingenommen, dass sie ihr Recht auf “privaten Freiraum” jenes über das Recht der Mitfliegenden auf Privatsphäre stellt? Denn ob die in ihren TikTok Videos vorkommen wollen, interessiert sie ja auch nicht. Wie sich nach einer kurzen Recherche zeigt, ist 49E auch nicht die einzige, die findet, man solle den Flugzeugsitz nicht umlegen dürfen. Vor allem Gen-Z Reisende fühlen sich dadurch in ihrem privaten Raum verletzt. Es ist schon spannend, dass ausgerechnet Angehörige einer Generation, die jede Befindlichkeit mit der Welt teilt, Follower sogar bis aufs Klo mitnimmt und über jede Darmbewegung via Livestream informiert, sich über fehlende Privatsphäre in einem Jumbojet mit über 500 anderen Menschen zu beklagen.