Dark Mode Light Mode
Dark Mode Light Mode

Keep Up to Date with the Most Important News

By pressing the Subscribe button, you confirm that you have read and are agreeing to our Privacy Policy and Terms of Use

Tel Aviv Pride: Nächte im Bunker statt Party bis zum Morgen

Die Pride in Tel Aviv gilt als größte ihrer Art in ganz Asien, eine Feier der Vielfalt und des Lebens in all seinen Entwürfen. Doch dazu sollte es in diesem Jahr nicht kommen.
Tel Aviv: Astrid Hofer ist im Bunker statt auf der Pride Tel Aviv: Astrid Hofer ist im Bunker statt auf der Pride
© Roni Kamhazi

Eigentlich wollte ich auf der Tel Aviv Pride Party machen, doch dann kam der Iran-Krieg dazwischen. Statt Luftballons und Konfetti flogen plötzlich Raketen über unsere Köpfe. Die Angst in der Stadt war spürbar, aber der (Über-)Lebenswille der Israelis stärker. 

Werbung

Immer bereit

Der Alarm auf meinem Handy und die Sirenen vor dem Fenster heulen fast zeitgleich los. Noch im Halbschlaf springe ich aus dem Bett, schlüpfe in meine Sneakers und schnappe meine Minitasche, die inzwischen routinemäßig direkt daneben steht. Mein Zimmernachbar hämmert unterdessen gegen die Wand. Das Zeichen haben wir schon vor Tagen vereinbart. Für den Fall, dass einer von uns mal trotz Sirenengeheul weiter schläft. Passiert ist das nur einmal. Und, natürlich, mir. Meine Ausrede: akuter Schlafmangel. Es ist 4 Uhr früh und in dieser Nacht haben wir schon zum fünften Mal Tagwache.

Tel Aviv Strand
© Astrid Hofer
Strand Tel Aviv
© Astrid Hofer

Die Home-Front-App, Israels offizielles Warnsystem, das uns wieder einmal aus dem Bett geholt hat, meldet, dass wir eineinhalb Minuten Zeit haben, um in den Schutzraum zu gehen. Heißt in unserem Fall: 15 Stockwerke zu Fuß in den Bunker, der gleichzeitig die Parkgarage ist. Während ich die Zimmertür zuknalle und in Richtung Treppenhaus laufe, sehe ich aus dem Augenwinkel Lichter über dem Balkon aufblitzen. Sie wirken ein bisschen wie Sternschnuppen. Doch die Realität hat nichts mit Romantik zu tun. Es sind Raketen, die direkt in unsere Richtung fliegen. Schon wieder. 

Tel Aviv: Die größte Pride Party Asiens

“Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?”, fragten mich Freunde noch, als ich von meiner Reise nach Tel Aviv erzählte. Und zugegeben, anfangs hatte ich auch Bedenken. Der 7. Oktober 2023 hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Die 251 Geißeln, die die Hamas nach Gaza verschleppt, die mehr als 1.200 Menschen, die sie an diesem Tag getötet hat. Der Krieg in Gaza. Die Bilder von Raketen, Ruinen und Leichen, die um die Welt gingen.

Pride Tel Aviv Israel
© Astrid Hofer
Pride Tel Aviv
© Astrid Hofer

Dennoch, es gab keine Reisewarnung für Israel, die Touristenattraktionen waren offen und Freunde vor Ort versicherten mir, dass eine Art Normalität eingekehrt war. Außerdem: Tel Aviv stand seit Ewigkeiten auf meiner Bucket List. Und die Tel Aviv Pride, die größte in Asien mit mehr als 200.000 Besuchern, war die perfekte Gelegenheit. Nach einem Jahr kriegsbedingter Pause sollte sie 2025 ihr Comeback feiern. Doch dann kamen die Luftangriffe dazwischen. 

Krieg statt Party

Ich war knapp eine Woche früher nach Tel Aviv gereist. Nach einigen unbeschwerten Tagen mit Sightseeing, Strandbesuchen und Touren durch den Norden und Süden des Landes sollte die Pride das Finale meiner Reise werden. Dann brach die Nacht zum 13. Juni herein. Und nichts war mehr wie vorher. Bis nach 1 Uhr früh hatten wir noch gefeiert, erst beim offiziellen Pride-Empfang, dann im Club, mit  Regenbogen-Fächern zu Beyoncé-Songs und hebräischen Hits getanzt und uns auf die Parade am nächsten Tag gefreut.

Pride Tel Aviv
© Roni Kamhazi
Pride Tel Aviv
© Roni Kamhazi

Doch kaum im Bett, schrillte um kurz vor 3 Uhr früh der Alarm am Handy los. Israel hatte, so las ich wenig später auf Ynet, einer der größten englischsprachigen Nachrichtenplattformen des Landes, überraschend die militärische und nukleare Struktur des Irans angegriffen. Jetzt wartete alles auf den Gegenschlag. Und wir saßen zum ersten Mal im zweiten Untergeschoss unseres Hotels. Im Bunker, der für die nächsten Tage zu einer Art surrealem Wohnzimmer wurde. Die Pride wurde noch in der Nacht abgesagt.

Routine statt Panik

Man sollte meinen, wenn Raketen über dem eigenen Kopf explodieren, die das Leben in Sekunden beenden könnten, bricht Panik aus. Oder die Menschen verfallen in Schockstarre. In der Realität ist weder das eine noch das andere der Fall. Als ich zum ersten Mal in den Bunker laufe, schalte ich instinktiv in eine Art Automatikmodus um. Statt mir im Kopf Horrorszenarien auszumalen, geht es jetzt nur darum, in 90 Sekunden in den Schutzraum zu kommen. Und, im Idealfall, die Zimmerkarte einzustecken. Mit letzterem bin ich, wie viele andere, nur bedingt erfolgreich. In den nächsten Tagen muss ich nach dem Alarm fünf Mal an der Rezeption um eine neue bitten. 

Tel Aviv Bunker
© Astrid Hofer
Bunker statt Party
© Astrid Hofer

Im Bunker sind neben Hotelgästen vor allem Israelis aus der Nachbarschaft. Zwar haben viele ihre eigenen Schutzräume, doch unserer gilt als besonders sicher. Es herrscht eine fast familiäre Atmosphäre. Jeder plaudert mit jedem, Hotelangestellte verteilen Wasserflaschen. Es dauert nicht lange, bis viele Gesichter und Namen vertraut sind. Immerhin sieht man sich ab Beginn des Iran- Kriegs jede Nacht gefühlt alle zwei Stunden. Der Raketenalarm, für unbedarfte Europäer erstmal ein Schock, ist für die Einheimischen sowas wie Alltag. “Schon die Kinder lernen hier, was zu tun ist, wenn die Sirenen losgehen. Es ist traurig, aber für uns ist das normal – und überlebensnotwendig”, erzählt mir einer. 

Kriegs-Crashkurs und Bunker-Party

Die Ruhe und Nervenstärke der Israelis überträgt sich. Frei nach dem Motto “in Panik verfallen bringt nichts”, gewöhne ich mich schneller als gedacht an diese neue Realität, in die ich über Nacht hineingeworfen wurde. Eine Alternative gibt es ohnehin nicht. Nach jedem Alarm sitzen hunderte Leute zwischen den geparkten Autos, je nach Uhrzeit mit Uno-Karten, Schlafdecken oder einer Flasche Wein. Bisweilen fliegt auch eine Frisbee-Scheibe durch die Garage. Einmal läuft ein kleiner Junge mit Kipa unter Applaus auf den Händen auf und ab. Ein anderes Mal stimmen dutzende Menschen spontan “Kol Ha’Olam Kulo” an, während sich um sie eine klatschende Menge bildet. Der Songtext spiegelt die Situation wider: “Die ganze Welt ist eine sehr schmale Brücke”, heißt es da. “Und das Wichtigste ist, sich daran zu erinnern, dass man keine Angst haben darf – überhaupt keine Angst.” Die Lebensfreude und den Optimismus, den die Leute hier selbst im Raketenhagel ausstrahlen, muss man in unseren Breiten mit der Lupe suchen. 

Straßenszene
© Astrid Hofer
Straßenszene
© Astrid Hofer

Unsere Bunker-Bekanntschaften verfolgen die Nachrichten am Handy und übersetzen das Wichtigste für uns. Ein älterer Herr achtet stets darauf, dass wir nicht zu früh zurück ins Zimmer gehen, und gibt uns eine Art Crashkurs in Sachen Kriegsgeschoße. Wir lernen, wie der Iron Dome funktioniert und dass er uns zwar vor Drohnen, nicht aber vor Raketen schützt (diese werden direkt von unten abgeschossen), dass Raketen aus dem Iran vier bis zwölf Minuten brauchen, um Israel zu erreichen, und dass die Menge des Sprengstoffs, mit dem sie geladen sind, rund eine halbe Tonne wiegt.

Israel
© Astrid Hofer
Israel
© Astrid Hofer

Zudem erfahren wir, dass die lauten Knalls, die uns regelmäßig zusammenzucken lassen, nicht etwa Einschläge sind, sondern ein von israelischer Seite geglückter Raketenabschuss. Manchmal machen wir, zugegeben, auch ziemlich dumme Sachen. Während die Raketen noch fliegen, versammelt sich regelmäßig ein Grüppchen an der Garagenrampe, um das Spektakel am Himmel zu beobachten. 

Strand, Sonne und volle Cafés: Tagsüber ist das Leben fast normal

Während ich wieder einmal warte, dass die Handy-App Entwarnung gibt – im Normalfall ist das nach zehn Minuten der Fall – versorgt mich ein junger Amerikaner in Shorts mit Sightseeingtipps. Dass er ein Maschinengewehr umgehängt hat, fällt mir erst auf den zweiten Blick auf. Der Grund: Es machen Gerüchte die Runde, dass Terroristen die Bunker stürmen könnten. Er sei vor ein paar Jahren nach Israel gezogen, müsse am nächsten Tag zurück an die Front, erzählt er, aber eigentlich leitet er in Tel Aviv Food-Touren. Wir tauschen Handynummern aus. Ich verspreche, nach Kriegsende bei ihm zu buchen. 

Bunte Accessoires
© Astrid Hofer
Bunte Accessoires
© Astrid Hofer

Die meisten Raketen fliegen nach Sonnenuntergang – einerseits, um vom israelischen Militär weniger schnell entdeckt zu werden, andererseits wohl auch, um den Leuten gezielt den Schlaf zu rauben. Dementsprechend verläuft das Leben tagsüber fast surreal normal. Der Sandstrand vor unserem Hotel wirkt wie aus einer kitschen Postkarte, lässt die Nächte im Bunker schnell vergessen. Meist schwimme ich schon vor dem Frühstück eine Runde, bevor am Nachmittag die Sonnenanbeter, Surfer und Beachvolleyball-Spieler eintrudeln. Auch die Liegen rund um unseren Hotelpool sind voll. Einziges Indiz, dass wir uns trotz dieser Idylle in einem Kriegsgebiet befinden: Im Wasser haben alle ständig die Leute draußen im Blick. Wenn plötzlich alle gleichzeitig aufs Handy schauen, heißt es in den Bunker rennen. 

Strand Tel Aviv
© Astrid Hofer
Strand Tel Aviv
© Astrid Hofer

Die meisten Geschäfte sind während der ersten Kriegstage geschlossen, doch der Carmel Markt, der größte der Stadt, der nur wenige Minuten zu Fuß von meinem Hotel entfernt ist, ist gut besucht. In den Cafes und Restaurants im Zentrum sind freie Tische Mangelware. Die Message ist klar: Tel Aviv lässt sich vom Krieg nicht unterkriegen. “Wenn du ständig mit dem Risiko lebst, dass jeder Tag dein letzter sein könnte, machst du das Beste aus der Zeit, die du hast”, erklärt mir ein israelischer Freund, mit dem ich, egal ob Tag oder Nacht, bei jedem Alarm “Ist alles ok bei dir?”-Nachrichten austausche.  

Plötzlich stürzen Trümmer vom Himmel

Dass es tatsächlich ganz schnell vorbei sein kann, wird klar, als nach ein paar Tagen kurz nach 4 Uhr früh Raketenteile in ein Wohngebiet um die Ecke stürzen. Fünf Minuten Fußmarsch vom Hotel entfernt fehlen plötzlich ganzen Gebäuden die Fronten. Aus den Teilen, die noch übrig sind, hängen die Fenster, drohen jeden Moment auf die Straße zu stürzen. Eine Siedlung aus den 1920ern, als UNESCO-Welterbe gekennzeichnet, gleicht einem Ruinenfeld. Wir laufen zwischen zerbrochenen Glasscheiben und verwüsteten Geschäften und Bars herum, aus denen die Alarmsirenen heulen. Noch lauter sind nur jene der Ambulanzfahrzeuge, die im Konvoi in die Straße rasen. Eine Frau sitzt zitternd auf dem Boden. Sie war im Bunker, erzählt sie. Als sie wieder herauskam, war ihre Wohnung weg. Einziger Lichtblick: Tote gibt es zum Glück keine. 

Trümmer in der Stadt
© Astrid Hofer
Trümmer in der Stadt
© Astrid Hofer

Tags darauf treffe ich in derselben Straße Offir, der in The Photo House, dem ältesten Fotoarchiv der Stadt, auf den Trümmern sitzt. Hilfe lehnt er ab, stattdessen schenkt er mir eine Postkarte, “damit du Tel Aviv nicht vergisst”. Vergessen, das wäre auch ohne Karte unmöglich. Viel zu sehr sind mir Israel und vor allem die Israelis ans Herz gewachsen. 

Wir schaffen das! Der Spirit der Israelis ist ungebrochen

Einen Tag später verlassen wir über Jordanien und die Türkei dennoch das Land. Mehr als 30 Stunden Reise, Chaos an der Grenze. Ob ich denn froh sei, “endlich aus Israel weg zu sein”, werde ich daheim gefragt. Ehrliche Antwort: nein. Nach ein paar Tagen Krieg zurück in der Wohnung zu sitzen, fühlt sich falsch an. Ich wäre gerne länger geblieben, hätte den Leuten, die wir in und um Tel Aviv getroffen haben, geholfen.

Banana Beach
© Astrid Hofer
Banana Beach
© Astrid Hofer

Ohnehin verbringe ich die nächsten Tage fast nur damit, mich mit ihnen über WhatsApp auszutauschen. Als Offir schreibt, dass sein Fotoladen wieder aufgeräumt ist und er aufsperrt, “sobald das neue Fenster kommt”, freue ich mich, als wäre es mein eigenes Geschäft. Wenig später schickt mir eine Freundin Strandfotos. Nachsatz: “Wir schaffen das! Wann kommst du wieder?” “So schnell wie möglich”, tippe ich, ohne lange nachzudenken. 

“Auf Wiedersehen” statt Goodbye

Auch wenn es für Außenstehende vielleicht schwer nachvollziehbar ist, habe ich meine Reise nach Israel keinen Tag bereut. Ganz im Gegenteil. Wenn ich mit ein paar Wochen Abstand an die Kriegstage zurückdenke, habe ich als erstes weder die Raketen noch die Sirenen im Kopf (auch wenn mich die Alarm-App auch daheim noch ein paar Mal aus dem Schlaf gerissen hat). Vielmehr hat sich die Lebenseinstellung der Leute eingeprägt, von der sich die meisten von uns eine große Scheibe abschneiden könnten.

Israel Stadtszene TLV
© Astrid Hofer
Israel Stadtszene TLV
© Astrid Hofer

Der unerschütterliche Optimismus und Lebenswille, selbst wenn über dem Bunker die Raketen flogen. Die spontane Bunkerparty am Nachmittag. Die unglaubliche Hilfsbereitschaft und der Zusammenhalt, die überall zu spüren waren. Oder, wie es ein Israeli ausdrückte, das “wir lassen keinen zurück”-Prinzip. Und natürlich die Stadt, die Strände und das Essen. Nach dem Sommer fliege ich wieder nach Tel Aviv. Dann ist der Krieg hoffentlich vorbei. Das jedenfalls hat sich jeder Einzelne gewünscht, den ich vor Ort getroffen habe. 



Weiterlesen:

Add a comment Add a comment

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert